Sprachlos betrachteten wir lange diese inabfallenden und ansteigenden Stufen den Blick in die Ferne ziehende Anlage und glaubten ganz allein zu sein, bis wir in dem Halbschatten, der von einer hohen Zeder in der südwestlichen Ecke des Gartens auf den Rasen gebreitet wurde, eine regungslose Gestalt liegen sahen. Es war ein alter Mann, der den Kopf aud den angewinkelten Arm gestützt hatte und ganz versunken schien in den Anblick des Fleckchens Erde unmittelbar vor seinen Augen. Wir gingen quer über die Rasenfläche, die uns jeden unserer Schritte mit einer wunderbaren Leichtigkeit machen ließ, auf ihn zu. Aber erst als wir uns ihm bis auf weniges genähert hatten, bemerkte er uns und erhob sich nicht ohne eine gewisse Verlegenheit. Obzwar groß gewachsen und breit in den Schultern, wirkte er untersetzt, ja, man hätte sagen können, wie ein ganz kleiner Mensch. Es kam dies vielleicht daher, daß er, wie sich bald erweisen sollte, stets eine goldene Lesebrille mit Halbgräsern trug, über deren Rand er mit gesenktem Kopf hinwegsah, wodurch ihm eine gebeugte, fast bittstellerische Haltung zur Gewohnheit geworden sein mußte. Das weiß Haar hatte er zurückgekämmt, doch fielen ihm einzelne Strähnen immer wieder in die auffallend hohe Stirn. I was counting the blades of grass, sagte er zur Entschuldigung für seine Gedankenverlorenheit. It's a sort of passtime of mine. Rather irritating, I am afraid. Er strich eine der weißen Strähnen zurück. Ungelenk und zugleich vollendet waren seine Bewegungen; von einer längst außer Gebrauch gekommenen Verbindlichkeit auch die Art, in der er sich uns vorstellte als Dr. Henry Selwyn. Wir seien gewiß, setzte er hinzu, der Wohnung wegen gekommen. Soviel er zu sagen vermöge, sei sie noch nicht vergeben, doch müßten wir uns in jedem Fall bis zur Rückkunft von Mrs. Selwyn gedulden, denn sie sei die Besitzerin des hauses, er hingegen nur ein Bewohner des Gartens, a kind of ornamental hermit. Im Verlauf des Gesprächs, das sich an diese ernsten Bemerkungen anschloß, waren wir den eisernen Zaun entlanggegangen, der den Garten vom offenen Parkland trennte. Wir heilten ein wenig ein. Um ein kleines Erlegehölz herum kamen drei schwere Schimmel, schnaubend und um Trab Wasen aufwerfend. Erwartungsvoll nahmen sie Aufstellung bei uns. Dr. Selwyn gab ihnen Futter aus seiner Hosentasche und fuhr ihnen mit der Hand über die Nüstern. Sie essen, safte er, bei mir das Gnadenbrot. Ich habe sie im vorigen Jahr für ein paar Pfund auf der Pferdeauktion gekauft, von der sie bestimmt in die Abdeckerei geraten wären. Sie heißen Herschel, Humphrey und Hippolytus. Über ihr Vorleben ist mir nichts bekannt, aber sie haben, als ich sie erstand, arg ausgesehen. Ihr Fell war von Milben befallen, ihr Blick getrübt, und die Hufe sind vom vielen Stehen in einem nassen Feld ganz ausgefranst gewesen. Inzwischen, sagte Dr. Selwyn, haben sie sich einigermaßen erholt, und es bleiben ihnen vielleicht noch ein paar gute Jahre. Dann verabschiedete er sich von den sichtlich von großer Zuneigung zu ihm bewegten Pferden und promenierte mit uns, ab und zu und stehenbleibend und in dem, wovon er sprach, ausführlicher werdend, zu den entlegeneren Teilen des Gartens. Durch das Gebüsch an der Südseite des Rasens führte ein Pfad zu einem von Haselsträuchern gesäumten Gang. In dem Gezweig, das über uns zu einem Dach sich schloß, trieben graue Eichkatzen ihr Unwesen. Der Boden war dicht übersät mit den Schalen der aufgebrochenen Nüsse, und Herbstzeitlose zu Hunderten fingen das schüttere Licht auf, das durch die trocken schon raschelnden Blätter hereindrag. Der Haselgang endete bei einem tennisplatz, an dem eine geweißelte Ziegelmauer entlanglief. Tennis, sagte Dr. Selwyn, used to be my great passion. But now the court has fallen into disrepair, like so much else around here. Nicht nur der Küchengarten, fuhr es fort, indem er nach den halbverfallenen viktorianischen Grashäusern und den ausgewachsenen Sparieren hinüberwies, nicht nur der Küchengarten sei nach Jahren der Vernachlässigung am Erliegen, auch die unbeaufsichtigte Natur, er sp]ure es mehr und mehr, stöhne und sinke in sich zusammen unter dem Gewicht dessen, was ihr aufgeladen werde von uns.
W. G. Sebald. Die Ausgewanderten - Dr. Henry Selwyn. Fischer (1994).
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